Warum die Pandemie Schriften freundlicher macht.
Unser Creative Type Director Phil Garnham sprach im Mai 2020 mit dem Economist über die Auswirkungen der Pandemie auf die Typografie. Angesichts des beispiellosen Jahres, das wir hinter uns hatten, gingen das britische Wirtschaftsmagazin und Phil der Frage nach, wie sich die Schriften in dieser Zeit entwickelt haben, um Lesern und Konsumenten zu erreichen.
Erstveröffentlichung in The Economist, von Arthur House.
Noch ist es zu früh, um genau vorherzusagen, wie stark die Pandemie Kunst und Design beeinflussen wird, aber die Werbetypografie hat sie bereits verändert. Erschütternde historische Ereignisse können das kreative Schaffen einer Generation durchaus in eine neue Richtung lenken. Der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1815 verursachte auf der ganzen Welt atmosphärische Störungen und 1816 ging als „das Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte ein. Aus den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs entstand die Moderne mit großen Innovationen in Literatur, Kunst … und auch der Typografie. Man denke nur an Futura und Gill Sans, beides frische, zukunftsweisende Schriften, die Mitte der 1920er Jahre geschaffen wurden und die Sehnsucht des Nachkriegsdesign nach etwas Neuem verkörperten.
Nicht nur typografisch geschulte Menschen wissen, dass beim Betrachten eines Schilds oder eines Logos mehr passiert als nur Lesen von Text. Wie Wörter gestaltet sind, kann genauso wichtig sein wie das, was sie aussagen. Schriften sind das visuelle Äquivalent zur Stimmfarbe. Sie würden die Einladung zu einer Party bestimmt nicht in Times New Roman oder eine ernst gemeinte Entschuldigung nicht in Comic Sans setzen. Für Unternehmen spielen Schriften eine wichtigere Rolle bei der Definition ihrer Identität als Farbe, Formen und Fotos.
Wenn sich die Welt verändert, ändert sich auch das, was wir sagen. So gesehen wirkt sich die Pandemie schon rein inhaltlich seit Monaten auf die geschriebene Kommunikation großer Marken aus. Dabei wurden häufig schlichte, geometrische und funktionale Schriften durch gerundete, weichere und ausdrucksstärkere ersetzt. Dieser Trend deutete sich schon vor der Pandemie an, eingeleitet von Marken mit selbstbewusst verspielten Identitäten wie Duolingo und Mailchimp. Nun hat er sich in der vergangenen Monaten beschleunigt. In Großbritannien haben Currys PC World, ein Elektrofachgeschäft, und Zoopla, eine Immobilien-Website, seelenlose Buchstaben durch charaktervolle Zeichen ersetzt. Um heute eine Waschmaschine zu verkaufen, brauchst du gewinnende Kurven und Bögen.
Der jüngste große Name, der diesen Weg beschritt, ist das Mobilfunkunternehmen O₂. Die Marke verabschiedete sich von Frutiger, eine weit verbreitete humanistische Sans, die seit 2002 im Einsatz war, um sie durch die Exklusivschrift On Air zu ersetzen, eine neue Schrift entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Monotype Studio. Die abgerundeten Ecken und „die kalligrafischen Akzente von On Air geben der Familie eine menschliche Note“, sagt der Mitentwickler Phil Garnham. Das Ziel war, den Werbetexten von O₂ Wärme und Persönlichkeit zu verleihen. „Die Wirkung von maßgeschneiderten Schriften wie On Air funktioniert unterbewusst“, sagt Garnham, und niemand kann sich dieser emotionalen Tuchfühlung entziehen, was die Macht der Schrift in der visuellen Kommunikation unterstreicht. Trotzdem steckten große und kleine Marken seit der Jahrtausendwende in einer typografischen Sackgasse fest. Und wie so oft „war das Internet daran schuld“.
Zwei Jahrzehnte lang griffen internationale Marken zu generischen serifenlose Schriften, weil sie an Bildschirmen unterschiedlicher Größe und Auflösung am besten zu lesen waren. Nicht umsonst wird die ehemalige Hausschrift von O₂ häufig als „die lesbarste Schrift“ bezeichnet, weshalb sie noch heute in den meisten Leitsystemen von Flughäfen zu anzutreffen ist. Obwohl die Web-Technologie Entwicklern heute die Möglichkeit bietet, jede beliebige Schrift für eine Website zu verwenden, bevorzugen ihre Auftraggeber weiterhin kalte, geometrische Designs wie Avenir, Gotham oder Proxima Nova.
On Air
Schriften sind das visuelle Äquivalent zur Stimmfarbe.
Aber lesbar bedeutet nicht automatisch einprägsam … eher das Gegenteil. Im Jahr 2018 fanden Forscher des Royal Melbourne Institute of Technology heraus, dass Leser dazu neigen, den Inhalt von Texten, die aus allzu vertrauten Schriftarten gesetzt sind, zu überlesen und sich besser an die Botschaft erinnern, wenn das Lesen mit einer „angenehmen Schwierigkeit“ verknüpft ist.
Für die Tests entwarf man deshalb eine Schrift namens Sans Forgetica, bei der Teile von Buchstaben weggelassen wurden und das Gehirn diese Lücken ergänzen musste. Experimente mit Schülerinnen und Schülern zeigten, dass Texte, die in dieser Schrift gesetzt waren, mit größerer Zuverlässigkeit im Gedächtnis haften blieben als solche, die in Arial gesetzt waren. Später fanden andere Forscher keine belastbaren Beweise dafür, dass Sans Forgetica die Merkfähigkeit verbessere.
Unabhängig von ihrer Auswirkung auf unsere Achtsamkeit sind rein funktionale Schriften auf dem Rückzug. Das liegt zum einen daran, dass die Bildschirme bessere Auflösungen haben und Buchstabendetails sauber wiedergeben; andererseits hat das Font-Engineering heute die Qualität der digitalen Darstellung besser im Griff als vor 20 Jahren. In den vergangenen Monaten kam hinzu, dass die Pandemie die Art und Weise, wie Marken mit uns interagieren, verändert hat. Wenn Geschäfte geschlossen sind, wird die schriftliche Kommunikation über Websites, Apps oder E-Mail immer wichtiger. Schriften müssen heute härter arbeiten als je zuvor.
Lesbar bedeutet nicht unbedingt einprägsam – das Gegenteil kann der Fall sein.
Die jungen Schriften der Pandemie-Ära haben ein gemeinsames Thema: geschwungene Linien und abgerundete Formen. Aoife McGuinness, eine neurowissenschaftliche Beraterin bei der Marketingagentur HeyHuman, schreibt in ihrem Blog, dass unsere Gehirnzellen möglicherweise auf eine Art fest verdrahtet sind, die bestimmte Formen mit Konzepten oder Gefühlen assoziiert.
Eine Studie über Lebensmittelverpackungen aus dem Jahr 2017 ergab, dass Menschen runde Schriften mit süßem Geschmack und eckige mit saurem assoziieren. Gerade Linien und scharfe Winkel vermitteln Stabilität und Autorität, während Kurven und Kreise Weichheit, Milde und sogar Freundlichkeit transportieren. Freundliche Schriften können ein Mittel sein, den Verbrauchern näher zu kommen, insbesondere denjenigen, die sich angesichts der Einschränkungen einsam fühlen. Wenn Sie sich nicht mit ihren realen Freunden treffen können, warum sollten Sie sich nicht mit ihrem Breitbandanbieter oder hrem Klamottenshop anfreunden?
Nick Stickland, Gründer der Kreativagentur odd, die gemeinsam mit Modeunternehmen Markenidentitäten entwickelt, hat eine andere Meinung. Er glaubt, dass die erzwungene Häuslichkeit während der Pandemie und der daraus resultierende Boom in der Innenarchitektur den Geschmack verändert habe. Der Trend zum kühlen skandinavischen Minimalismus ist einer neu entdeckten Wertschätzung für gemütlichen Üppigkeit gewichen. So gesehen sind kuschelige Schriften das typografische Äquivalent zur bequemen Trainingshose.
Die Schriften der Pandemie-Ära haben ein gemeinsames Thema: geschwungene Linien und abgerundete Formen.
Wir hatten zuletzt viel Zeit zum Nachdenken. Den Verbrauchern sind Nachhaltigkeit und Auswahl heute wichtiger als 2019, und die Unternehmen müssen darauf hören. Wenn kalte, geometrische Buchstaben eine gewisse Autorität, ja sogar Arroganz ausdrücken, dann spiegelt der Wechsel zu wärmeren, abgerundeten Buchstabenformen einen maßvollen, zurückhaltenden Ansatz wider. Für Marken ist die Anpassung ihres Schriftbildes eine einfach und schnelle Möglichkeit zu zeigen, dass sie mit der Zeit gehen oder ihr sogar voraus sind.